Der Bus in Richtung Glück
Es war der große Tag. Hans sollte bei uns – das sind meine Frau und ich – einziehen.
Inzwischen hatten wir beide ihn und seinen Charakter bei einigen Gassi-Gängen und ein paar Spieleinheiten im Tierheim kennengelernt.
Hans sollte ein neues Zuhause bekommen. Ihn dort hinzubekommen war eine kleine Herausforderung.
Hans wollte nicht ins Auto steigen. Weder in den geräumigen Kofferraum unseres Kombis noch auf die Rückbank.
Selbst das großzügige Angebot, dass meine Frau oder ich hinten sitzen und Hans den Beifahrersitz in Beschlag nehmen durfte,
wurde von ihm mit stoischer Ruhe abgelehnt.
„Er kennt es nicht“, sagte Frau Wollmann, die gute Seele vom Tierheim. „Er ist noch nie Auto gefahren.
Sein altes Frauchen hatte keins und für die Untersuchungen kommt die Tierärztin immer zu uns hier ins Tierheim.“
„Dann muss er es auch nicht heute zwanghaft lernen. Er soll nicht mit Angst ins neue Zuhause kommen.“ Meine Frau hatte recht.
Da wir Hans zwar als stur erlebt hatten, aber nicht als faul, lag die Lösung auf der Hand.
„Die paar Kilometer schaffen wir doch auch zu Fuß, oder?“ schlug ich ihm vor. Zum Zeichen seines Einverständnisses drehte sich Hans vom Wagen weg.
„Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass er eigenwillig ist“, lachte Frau Wollmann.
Sie beugte sich noch einmal zu Hans hinunter und knuddelte ihn und seine herrlichen großen Ohren zum Abschied
noch einmal ordentlich durch.
Wir machten uns dann getrennt auf den Weg. Meine Frau mit dem Wagen, ich mit Hans.
Ein Weilchen waren wir schon unterwegs und hatten kaum jemanden getroffen.
Das sollte sich nach der nächsten Häuserecke ändern.
Eine Menge Leute standen auf dem Bürgersteig.
Sie schauten alle in unsere Richtung, als wir die Straße entlangkamen.
Im ersten Augenblick sah es so aus, als hätten sie auf uns gewartet.
Beim Näherkommen merkte ich allerdings, dass sie an uns vorbei in die Ferne blickten.
Es waren rund 50 Menschen. Frauen und Männer unterschiedlichen Alters. Auch Kinder waren dabei.
Sie alle starrten gebannt und überwiegend schweigend.
Erst bei ihnen angekommen, fiel mir das Bushaltestellenschild auf.
„Warten Sie alle auf den Bus?“, fragte ich eine ältere Dame.
„Ja, natürlich, was sonst?“
Es klang gereizt, ungeduldig, mit einem Unterton von Unverständnis.
„Nehmen Sie es ihr nicht übel“, flüsterte ein junger Mann mir zu. „Sie wartet schon ziemlich lange.“
„Kommt denn der Bus so unpünktlich?“
„Nein, er kann gar nicht unpünktlich kommen. Es gibt keinen Fahrplan!“
„Kein Fahrplan ist aber schon speziell, oder?“
„Es ist ja auch ein spezieller Bus. Es ist der Bus in Richtung Glück!“
Erst jetzt fiel mein Blick auf das Bushaltestellenschild.
Da stand weder eine Liniennummer noch sonst irgendeine Information. Da stand nur Haltestelle.
„Woher wissen Sie das denn?“
„Es hat sich herumgesprochen, irgendwo muss es ja losgehen!“
„Warten Sie auch schon lange?“
„Es geht so. Ich komme so oft wie möglich nach Feierabend hierhin! Irgendwann muss es ja funktionieren.“
Hans hatte es sich inzwischen bequem gemacht und beobachtete das Geschehen. Er schien interessiert an dem, was hier passierte.
Ich war es auch und nahm das Gespräch mit dem jungen Mann wieder auf.
„Was wäre denn Ihr Glück?“
„Die Frau fürs Leben!“, war seine prompte Antwort.
Während er das sagte, bemerkte ich die junge Frau drei Reihen hinter ihm, die ihn interessiert beobachtete.
Er konnte sie nicht sehen. Sie stand nicht in seiner Blickrichtung.
Wäre ein schönes Paar, dachte ich kurz bei mir, während meine Aufmerksamkeit zu einer jungen Mutter mit einem etwa achtjährigen Mädchen wechselte.
„Mama! Wann kommt der Bus denn endlich? Ich will endlich Glück haben!“
„Ach Mäuschen, ein bisschen müssen wir schon warten. Du bist ja noch jung.“
„Ich will aber nicht erst Glück haben, wenn ich Oma bin!“ Dabei schaute sie auf meine erste Gesprächspartnerin.
„Außerdem muss ich dringend Pipi.“
„Das geht jetzt nicht. Wenn wir jetzt gehen, kommt womöglich der Bus und wir verpassen ihn!“
„Ich muss aber ganz dringend, Mama!“
Ihre Mutter blickte verzweifelt in Richtung Horizont. „Dann komm schnell, wir gehen kurz in das Restaurant gegenüber.“
Sich immer wieder gehetzt umschauend liefen die beiden los.
„Und Sie?“ Meine Frage richtete sich an einen Mann mittleren Alters. „Was wäre Ihr Glück?“
„Genügend Geld, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Das Ticket habe ich schon!“
Er zeigte mir grinsend seinen Lottoschein. Um ihn herum gingen mehrere Hände in Taschen.
Offensichtlich um sich zu vergewissern, ob der eigene Schein auch noch da war.
Ich wünschte ihm viel Glück und wollte schon weitergehen, aber Hans hatte wohl noch keine Lust.
„Vielleicht mag er ja ein Leckerchen als Bestechung?“
Die Frage kam von der jungen Frau in der dritten Reihe, die offensichtlich nicht nur Interesse an dem suchenden jungen Mann hatte,
sondern auch an Hans oder ihn als willkommenes Alibi nutzte, um näherzukommen.
Hans nahm dankend an und forderte noch einen kleinen Nachschlag an Zuwendung, indem er sich auf den Rücken legte.
Die junge Frau verstand seine Botschaft sofort und kraulte ihm den Bauch.
Inzwischen hatten wir die Aufmerksamkeit der meisten Wartenden erregt.
Auch die des jungen Mannes.
Zum Glück blieb sein Blick nur kurz an Hans und deutlich länger an der jungen Frau hängen.
Hans schien zufrieden zu sein. Mit dem Leckerchen, den Streicheleinheiten und der Herstellung des Blickkontaktes zwischen zwei Menschen.
„Ich wünsche Ihnen allen viel Glück!“, sagte ich noch in die Runde und flüsterte Hans leise ein „Gut gemacht“ zu.
Auch in der Erinnerung spüre ich noch den bohrenden Blick der alten Dame zwischen meinen Schulterblättern.
Nach einer Weile kamen wir an dem kleinen und wunderschönen Park, der auf unserem Heimweg liegt, vorbei.
Hans meinte offensichtlich, dass uns eine kleine Pause guttun würde und steuerte eine der Parkbänke an.
Wir setzten uns. Ja, beide auf die Bank.
So wie wir dasaßen, erinnerte es mich an ein Bild von Charlie Brown und Snoopy.
„Eines Tages werden wir alle sterben!“, steht in der Sprechblase über Charlies Kopf.
Snoopys Antwort lautet: „Und an allen anderen Tagen leben wir!“
Ich mag dieses Bild und ich mag auch die Botschaft.
Diesen kleinen schönen Park mag ich auch. Und seit diesem Tag, als Hans zu uns kam, mag ich es auch,
mich mit ihm zu unterhalten.
Ich erinnere mich, als wenn es gestern gewesen wäre.
Mit dem Blick in den menschenleeren Park fragte ich meinen neuen Lebensgefährten: „Ist das Glück?“
Hans blickte mich an und dann schaute er wieder in den Park.
„Was sonst?“, hörte ich eine mir unbekannte Stimme neben mir sagen.
Ich musste an die Worte von Frau Wollmann denken: Sein Frauchen sagte, es steckt viel Glück im Hans.
Wir haben noch ein Weilchen einfach so gesessen und es genossen.
Wir brauchen auf keinen Bus zu warten.
Glück muss man können
© Hans Lunkeit